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23.7.16

Die Enthüllung am Dunkelfels


Es ereignete sich im Mai, zwei Wochen nach meiner Entlassung, als mich wieder einmal meine Abenteuerlust packte und fortzerrte in die Wildnis. Diesmal trieb es mich durch die unerschlossene Waldlandschaft der Dunkelfelsebene. Obwohl mir wenig über die Gegend bekannt war, wusste ich, dass ich dort meinen Hunger nach Entdeckung stillen konnte.

Ich konnte Krallheim nicht länger ertragen und wollte der kalten, stinkenden Stadtluft entfliehen, die mir schon viel zu lange den Atem vergiftet hat. Die hohen, geschwärzten Häuser und die morbiden Menschenmengen erdrückten mich und der Industrierauch der neuen Fabrik sowie der stete Verkehrsfluss in den Straßen bestärkte den trüben Schleier, der schon seit langer Zeit über der düsteren Großstadt hängt.
Mit einem kleinen Kapital, ein wenig Reiseproviant und einer großen Fülle an Wander- und Überlebensausrüstung sowie meiner zuverlässigen Petroleumlampe – damals konnte ich mir noch keine elektrische Taschenlampe leisten – in meinem Rucksack, stieg ich ohne zu zögern in den nächsten Expresszug und legte das etwas abgelegen liegende Tormund als mein erstes Ziel fest.
Die gewaltige Maschine fuhr rhythmisch ratternd und mit einem gequälten Quietschen hinfort aus dem tristen Ort, den ich mein Heim nannte. Hinter sich ließ sie nur die heißen Abgaswolken, die gen Himmel stiegen und sich langsam im Wind auflösten. Ich stellte mir vor, wie die sich kräuselnden Schwaden all meine Sorgen, Pflichten und Ängste, die mich stets verfolgt hatten von mir rissen und mit sich nahmen auf ihrem Aufstieg und mein Kopf klarer und mein Geist reiner wurde. Just als ich dies dachte und aus dem Fenster sah, erfasste mich eine Woge der Erleichterung als zuerst das Zentrum, dann die Randbezirke und schließlich die industrielle Peripherie an mir vorbeizogen und die Landschaft bunter und mir wohler ums Herz wurde.
In Tormund gönnte ich mir ein rasches Mahl und wollte dann sogleich weitereilen, vorzugsweise in einem motorisierten Gefährt. Auf dem Bahnhofplatz warteten mehrere Taxis aber nur einer der Fahrer willigte ein, mich in die Nähe des Dunkelfels zu bringen. Er könne mich für einen kleinen Preis nach Schwarzbrunn bringen und am nächsten Tag um die gleiche Uhrzeit wieder abholen, meinte er. Ich nahm sein Angebot an und stieg voll Frohmut in den Wagen, ohne zu wissen, was mich dort erwarten würde.

Nach einer langen ereignislosen Fahrt durch vereinzelte Kleinstädte und weite Ackerländer erkannte ich endlich in der Ferne einen beeindruckenden Waldsaum, der sich von der übrigen Umgebung deutlich abhob. Dahinter, noch weiter entfernt, machte ich die Konturen des gewaltigen, fast tiefschwarzen Dunkelfels aus, der majestätisch über die Ebene wachte. Wir holperten die löchrige Straße entlang, der dunkelgrünen Brandung entgegen, die sich vor uns erstreckte und schon bald begann die exotische Vegetation der Dunkelfelsebene uns langsam zu verschlingen.
Wir passierten einige verfallene Siedlungen und überwucherte Wüstungen, die zwischen dem Buschwerk ruhten und der Atmosphäre einen Eindruck von ferner Wildheit, vergessenen Geheimnissen aber auch von gesellschaftlichem Niedergang und kulturellem Verfall verliehen. Ich konnte beobachten, wie die Bäume an Höhe und Breite zunahmen und sich ihr mächtiges Blätterdach wie ein lebendiges Maul über uns schloss, bis wir uns nur mehr in einem dunklen Pflanzentunnel befanden. Mir war, als hätte ich die Pforte zu einer anderen Welt durchschritten, in der die Natur noch mit aller Gewalt regierte und auf deren Boden der Mensch noch Tier war. Meine Aufmerksamkeit galt den Schatten zwischen den Stämmen und meine Gedanken phantasierten von all den verborgenen Schätzen und verbotenen Mysterien, die ich darin zu entdecken vermochte. Hin und wieder warf ich einen Blick auf den Fahrer und konnte nicht übersehen, dass er immer unruhiger wurde, je tiefer wir in das wilde Land eindrangen.

Schließlich verstummte das monotone Brummen des Wagens und wir waren am Ziel. Schwarzbrunn. Eine winzige Ansammlung von primitiven Hütten, bewohnt von einer eigenartigen Menschenschar, die uns begierig musterte als wir eintrafen. Allem Anschein nach erwarteten sie aufgrund ihrer abgeschotteten Lage von der modernen Zivilisation selten Besucher und so war es nicht verwunderlich, dass sie uns mit Begeisterung willkommen hießen und augenblicklich in feierlicher Stimmung waren. Der Taxifahrer erinnerte mich nochmals an die Uhrzeit, zu der er mich abholen werde und wünschte mir einen erholsamen Urlaub bevor er – sichtlich in Eile – umkehrte und mich dem Wald ausgeliefert zurückließ.
Eine Gruppe der Einheimischen umringte mich und begann hastig auf mich einzureden und mir sonderbare Fragen zu stellen in einer stürmischen Manier. Die meisten brachten mir Bewunderung oder Überraschung entgegen, andere sprachen mir Mut zu oder segneten mich mit Gebeten an kuriose Gottheiten. Eine alte Dame blieb mir besonders in Erinnerung. Sie stand abseits am Wegesrand und formulierte mit geschlossenen Lidern eine Reihe von Silben, die ich nicht verstand. Nachdem sie fertig war, öffnete sie die Augen und starrte mich mit einem schiefen Grinsen an. Dann kehrte sie um und verschwand hinter der Böschung.

Nach einem Gespräch über meine Nächtigung mit einem überaus freundlichen Bewohner hatte ich noch einige Stunden Tageslicht zur Verfügung. Obwohl ich schon etwas ermattet war, beschloss ich, sofort aufzubrechen. Der Drang nach Abenteuer und Erkundung der unerforschten Natur drohte mich andernfalls zu zerreißen.

Obgleich die Sonne noch den Horizont hinab spazierte, war es finster unter der dichten Blätterdecke, was mich dazu zwang, meine Lampe zu verwenden. Ich hatte große Schwierigkeiten, mich zurechtzufinden und befürchtete, mich zu verirren. Wegweiser, Wanderpfade, markante Stellen oder andere Anhaltspunkte waren nach kurzer Zeit nicht mehr zu finden. Zu meinem Glück hatte ich meine Ausrüstung mit Bedacht vorbereitet und eine große Fadenrolle mit eingepackt, dessen Ende ich an einem Baum festband und im weiteren Verlauf des Marsches hinter mir ausrollte.
Wie der tapfere Theseus durch das teuflische Labyrinth dem fürchterlichen Minotaur entgegen preschte, so stürzte auch ich mich in ein Wagnis mit ungewissem Ausgang. Ich kämpfte gegen die tückischen Ranken und Wurzeln, die einem Schildwall gleich das Herz des Landes vor mir zu schützen gedachten indem sie meinen Weg erschwerten. Den unbändigen Kräften der Wildnis, diesem unbezwingbaren Feind, bot ich die Stirn. Und irgendwo zwischen Erde und Geäst an einem versteckten Ort schlummerten die geheimen Schätze, die meine Trophäe sein sollten. Manch einer würde meinen, dies wäre eine Sucht, die am Verstand zehrt, doch mir war die Suche im Dreck der Welt eine Muße sondergleichen.
Erst als die letzten fahlen Lichtstrahlen verblassten und ich in fast absoluter Finsternis wandelte, wurde ich aus meinem Wahn vom glorreichen Heldenkampf gerissen. War die Nacht hereingebrochen oder hatte mich die tückische Ebene nun vollständig von der zivilisierten Welt getilgt? Bestimmt irrte ich schon lange ziellos herum und die Fadenrolle gab nicht mehr viele Meter her. Ein grollender Donnerschlag verkündete ein gewaltiges Gewitter. Die Luft roch nach feuchter Erde und ein atmosphärisches Rauschen ertönte hoch über mir, begleitet von einem lauten Plätschern. Ich sah hinauf, konnte aber keine Tropfen erblicken und spürte kein Wasser auf meiner Haut. Was ich stattdessen beobachtete, war ein Phänomen von atemberaubender Kuriosität. Das Licht meiner Lampe wurde von vielen kleineren Rinnsalen, die aus der Höhe herabströmten, reflektiert. In vereinzelten Wasserfällen schoss das leuchtende Nass durch die Dunkelheit herunter und erschuf ein irreal wirkendes Schauspiel. Das unnatürlich dicke Blätterdach dämmte nicht nur das Licht bis zu einem Minimum, sondern schien auch zu versuchen, das Regenwasser aufzuhalten. Vermutlich zeugten die sporadischen Ströme von undichten Stellen in dem faszinierenden Gewächs. Ich spürte die magische Natur des Waldes in meinem Inneren und war überwältigt von vielerlei Empfindungen, die ich nicht zu beschreiben vermag. Mein Geist sagte mir, dass ich nun gefunden habe, wonach ich suchte und schleunig heimwärts kehren sollte. Zuerst wollte ich ihn nicht anhören und mich nicht von den Wundern dieser Landschaft trennen, doch mir war die drohende Gefahr bewusst, die mein spontanes Unternehmen innen hatte und mein Proviant war schon seit einer Weile verbraucht. Also kehrte ich um und befestigte die Lampe am Rucksack, sodass ich beide Hände frei hatte, um den Faden, den ich auf meinem Weg hinter mir ausgerollt hatte, wieder einzuwickeln. Obgleich der Wunder, die ich gesehen habe, war ich frohen Mutes, der Dunkelfelsebene den Rücken zuzukehren und wieder ins Licht treten zu können. Voll Freude marschierte ich retour.

Mein Atem keuchte und mir rann der Schweiß. Von Zeit zu Zeit streifte mich ein kalter Windhauch und trug die akustische Atmosphäre der Umgebung an mein Ohr. Das helle Summen der Insekten, das nasse Rascheln des Laubes, das hölzerne Klagen der Äste. Und dann ein eigenartiges bellendes Geräusch. Zuerst war ich mir nicht sicher, ob ich es tatsächlich vernommen hatte. Ich blieb stehen und lauschte erneut. Da war es wieder. Das krächzende Husten eines menschlichen Wesens. Da schleifte tatsächlich ein Paar Füße träge zwischen den Schatten umher. Ich löschte meine Lampe und duckte mich. Ich wollte mich nicht sofort zu erkennen geben und zuerst beobachten, mit wem ich es zu tun hatte. Wer, wenn nicht ein tapferer Abenteurer meines Kalibers, würde sich so tief ins Dickicht wagen? Die stolpernden Schritte näherten sich. Ich lugte durch einen Strauch, hinter dem ich Deckung fand. Jetzt gewahrte ich den Wanderer, der nun schon ganz nahe war. Er trug eine unpraktische Fackel mit sich, die ihm scheinbar nicht genug Licht spendete, sodass er vorsichtig und behäbig voranschreiten musste. Der Flammenschein enthüllte für einen kurzen Moment seine Gestalt und ich musste bei seiner Erscheinung erzittern. Zwischen den spitzen Dornen und dünnen Zweigen des Strauches konnte ich gerade noch das scheußliche Gesicht erhaschen, das unter einer weiten Kapuze steckte. Ein Gesicht, das keinem Menschen gehörte. Eine groteske blutrote Maske an dessen Wangen schwarze Linien wie teuflische Tränen hinabliefen und um dessen Augenlöcher ebenso tiefschwarze Ringe geschmiert waren. In deren Mitte blitzten die aufgerissenen Augen des Wanderers durch die Löcher. Ich konnte nur diesen einen Blick auf das werfen, was er unter seiner dunklen, mit kryptischen Mustern verzierten Kapuzenrobe zu verhüllen versuchte. Der Vermummte stieß abermals ein gedämpftes Krächzen aus, das kaum noch an ein Husten erinnerte, und entzog sich meinem Blickfeld.
Es war wieder finster und noch hatte ich nicht den Mut meine Lampe einzuschalten. Noch halb festgefroren in einer Starre aus Schock und Verwunderung tastete ich nach meiner Ausrüstung. Mich peitschte eine Woge der Überraschung als ich verzweifelt danach suchte. Ich musste meinen mich leitenden Faden in diesem hektischen Augenblick, in dem ich diesem mysteriösen Wanderer auflauerte, irgendwo liegen gelassen haben. Ich sah in Richtung des schwindenden Fackellichts und erhob mich mit erdrückendem Unbehagen. Mir blieb nichts anderes übrig, als ihm zu folgen.

Ich verfolgte den maskierten Wanderer im schleichenden Schritt aus sicherer Distanz, sodass ich sein Licht nicht aus dem Blick verlieren würde und er mich nicht hören konnte. Ab und zu schallte sein Krächzen durch die Dunkelheit und ließ mich noch mehr Vorsicht walten. Ich erkannte an der Vegetation, die nun immer dichter und gewaltiger wurde und mit mehr Dornen und Brennnesseln gespickt war, dass mich der Verfolgte definitiv nicht zurück nach Schwarzbrunn, sondern tiefer ins Herz der Landschaft führte. Und als nach einer Zeit der Boden härter und steiniger und die Steigung steiler wurde, wurde mir klar, dass wir uns nahe am Fuße des mächtigen Dunkelfels, dem steinernen Kern des Waldes, befinden mussten.
Meine Beine begannen nach der langen Wanderung zu schmerzen und ich konnte nicht anders, als mich für einen Moment hinzusetzen und zu rasten. Ich massierte mir die Waden und langte nach meiner Wasserflasche, ließ es aber bleiben nachdem mir einfiel, dass ich die letzten Tropfen schon vor einer guten Stunde genossen hatte. Auch der letzte Bissen Brot lag weit in der Vergangenheit zurück. Somit war mein anfangs üppiger Proviant nun komplett verbraucht. Seufzend sah ich auf und bemerkte, dass das fahle Fackellicht jetzt fort war. Ich begann leise zu fluchen, ärgerte mich über meine körperliche Schwäche und die eingelegte Rast. Auf welche Irrwege hatte mich dieser vermummte Unhold geführt? Was dachte ich mir nur dabei, meinen blinden Phantastereien zu folgen? Wie lange würde es dauern, bis ich wieder nach Schwarzbrunn finden würde? Mir war bewusst, dass ich nun in einer verdammt misslichen Lage steckte.
Da der skurrile Maskierte fort war, konnte ich gefahrlos meine Lampe wieder entzünden. Um meine Enttäuschung zu verarbeiten, wühlte ich gedankenverloren eine Weile im feuchtkalten Boden. Der nasse Dreck unter meinen Fingernägeln fühlte sich irgendwie gut an und der erdige Geruch lag mir angenehm in der Nase. Ich fand einen Regenwurm unter einem scharfkantigen Stein und hob ihn auf. Ich hielt ihn in den warmen Schein meiner Lampe. Das weiche Getier wand sich auf meiner Handfläche, bildete Schnörkel und Kringel, hob seinen Kopf und tat so, als würde es mich ansehen. Der kleine Wurm hob mich in eine hypnotische Faszination und weckte in mir eine hoffnungsvolle Besonnenheit. Vielleicht war ja doch noch nichts verloren.
Ich stand auf und schlängelte mich durchs Gebüsch in die Richtung, in die der Verhüllte verschwand, in der Absicht, wenigstens etwas über die schaurige Natur des Wanderers und das Ziel seines Marsches herauszufinden.

Nach kurzer Zeit kam ich zu einer Lichtung und was ich dort entdeckte, ließ mich erstarren. Endlich war ich nicht mehr unter dem dichten, alles isolierenden Blätterdach gefangen und konnte wieder den Nachthimmel erblicken. Der Mantel aus funkelnden Sternen und dem halben Mond über mir illuminierten das, was mir bestimmt war zu finden.
Die Stelle lag an einem Felshang zu Füßen des gewaltigen Dunkelfels, den ich im nächtlichen Schimmer bestaunte. Der Berg, hoch über diesem Ort der Finsternis aufragend, wirkte wie sein Beschützer. Zu Recht. Denn dies musste das kalte Herz sein, dass schwarzes Blut durch die Adern der Natur pumpt und den Wald monströs und den Fels dunkel werden ließ. Ich sah sie, diese Ruine, und erschauderte angesichts der ungeheuren Macht, die von ihr ausging. Sie zehrte an mir, beherrschte mich, zog mich hinein, vielleicht schon länger als mir bewusst war.
Es war ein verfallenes Gebilde aus schwarzem Stein, überwachsen von dornigen Ranken und wilden Giftpflanzen, immer mehr je weiter man ging. Jeder Winkel war von Dekadenz gezeichnet. Überall stießen Säulentrümmer von exotischer Architektur wie Speerspitzen aus dem Boden. Ich durchschritt einen mit Gravierungen verzierten Torbogen und schlich behutsam vorwärts. Vorbei an halb zerbröckelten Skulpturen, dessen skurrile Formen nicht mehr zu deuten waren. Vorbei an uralten Schreinen mit arkanen Götzenbildern. Vorbei an kryptischen Inschriften in mir unbekannter Sprache. Hinein in den ominösen Ort dessen anrüchige Geschichte viele obskure Fragen aufwirft.
Weiter drinnen fand ich einen intakten steinernen Gang, der ins Innere des ruinösen Gebäudes führen musste. Zweifellos war der mysteriöse Wanderer hineingegangen. Und ich schickte mich an, ihn aufzuspüren und das dunkle Geheimnis, welches hier schlummerte zu enthüllen.

Der Gang führte jedoch, entgegen meiner Vermutungen, nicht hinein, sondern hinunter. Es war eine abfallende Sackgasse an deren Ende sich ein großes künstlich geschaffenes Erdloch im Boden befand. Die Pforte ins Erdreich war mit Fackeln ausgeleuchtet, ich konnte also meine Petroleumlampe verstauen und den steilen Abstieg wagen.
Die ersten Meter stapfte ich durch ein Gemisch aus Sand und Geröll und musste höllisch aufpassen, dass ich nicht abrutschte und den Schlund hinabfiel. Mit einer Hand an der Wand entlang tastend ging es immer tiefer und tiefer durch den Stollen. Die Gefälle nahm dann etwas ab und der Gang wurde breiter, doch ich musste immer noch etwas geduckt gehen um mir nicht den Kopf zu stoßen. Je weiter ich eindrang, desto unbehaglicher war mir zumute. Die Luft hatte einen ekligen Nachgeschmack und die Wände wurden ungewöhnlich feucht. Und dieser Geruch… Ich konnte ihn nicht zuordnen, wusste aber, dass er nichts Gutes verhieß. Der Stollen beschrieb eine leichte Biegung. Was ich dahinter fand ließ mir den Atem stocken.
Plötzlich mündete der unterirdische Gang in einen fackelbeleuchteten Hohlraum und ein riesiges steinernes Gewölbe erstreckte sich vor mir. Ungefähr acht Meter in der Breite, vier bis fünf Meter hoch und einer Länge, die ich von der Mündung nicht schätzen konnte. Es wirkte wie ein teils eingestürztes Verlies aus altertümlichen Zeiten. Reste des verfallenen Saals lagen überall verstreut. Kalte Luft strömte mir entgegen und erstickte meine Sinne in dem beißenden Gestank. Die Fackeln an den Seitenwänden erhellten mehrere Rundbögen unter denen weitere Tunnel abzweigten. Ich wagte angesichts der mich verschlingenden Atmosphäre, die meinen Verstand überwältigte, keinen einzigen klaren Gedanken zu fassen und wurde unter einem Gefühl von bedrückender Isolation begraben. Mir war, als ob ich eine andere, verborgene Welt betreten hätte.

Ich erschrak bei dem Klang von Stimmen, die einen der Seitentunnel hinauf hallten. Intuitiv presste ich mich hinter einen Rundbogen, dessen Tunneleingang schon seit sichtlich langer Zeit eingestürzt war. Die Stimmen gewannen an Intensität und formten nun klare musikalische Laute. Ich lugte um die Ecke und konnte beobachten, wie eine Gruppe in Roben gehüllter Gestalten den Raum betrat. Im Gänsemarsch einer sakralen Prozession, mit einem Fackelträger an der Spitze, zogen sie durch das Gewölbe. Ihre Stimmen drangen gedämpft unter den diversen scheußlichen Maskenfratzen hervor, die Ähnlichkeiten mit der des Wanderers aufwiesen. Schmerzverzerrte, manisch lachende oder entsetzt schreiende Grimassen, beschmiert mit dunklen Flecken und teilweise verdeckt von weiten Kapuzen. Von den Schultern hingen Roben, Umhänge oder Mäntel in dunkelbraunen Farben und verhüllten gänzlich den Körper. Schwere Stiefel stampften durch den Saal auf den gegenüberliegenden Tunnel zu. Ich hatte Glück, dass sie mich nicht bemerkten. Wohl eher aufgrund ihres begrenzten Sichtfeldes und der Vertiefung in ihren Gesang und weniger wegen meinem Versteck, das ich in der Hast nicht gut gewählt hatte.
Es wurde wieder ruhiger. Sie waren fort, in einem der Stollen verschwunden. Mein Wille blieb trotz der Situation unerschütterlich. Ich ließ mich nicht von diesem Pack einschüchtern, doch ich wusste, dass ich mich vorsehen musste. Ein Fehler und sie könnten mich entdecken. Und wer weiß, was sie dann mit mir machen würden. Sie gehörten allem Anschein nach einem eigenartigen Kult an und praktizierten ihre grausigen Riten wohl unter dem Tunnelgedärm. Sobald die Schar in sicherer Entfernung war, schlich ich ihr hinterher.

Nachdem ich eine relativ weite Strecke zurückgelegt hatte, kam ich zu einer Abzweigung. Fußspuren verrieten, dass die Prozession vom primären Stollen abgebogen und hinter einer schweren Metalltür verschwunden ist. Ich konnte den Gesang bis hinaus hören und vermutete, dass dieser Raum der Kern ihrer Machenschaften war. Nach kurzer Überlegung fasste ich jedoch den Entschluss, nicht den einfachen aber riskanten Weg durch die Tür zu nehmen, sondern dem Hauptstollen weiter zu folgen. Mein Instinkt trog mich nicht. Unweit fand ich ein Loch in der Wand, groß genug, um hindurch kriechen und den angrenzenden Raum betreten zu können.
Als ich mich durch die Öffnung zwängte, tauchte ich in einen Schwall feuchter Luft ein. Der Hohlraum dahinter, der nach einer verstaubten kleinen Vorratskammer aussah, hatte ein völlig anderes Klima im Vergleich zu den kühlen Tunneln des Verlieses. Eine schwüle Atmosphäre erfüllte die unterirdische Kammer und der fremde Gestank war hier nahezu unerträglich. An einer Wand waren in kunstvollen Regalen mehrere Dutzend fest verschlossene Tongefäße aufgeschichtet, deren dekorative Bemalung aus schreienden Gesichter mich angafften. Ich fragte mich, ob man gerade für deren Lagerung eine solch tropische Luftfeuchtigkeit eingerichtet hatte. Bei näherer Untersuchung versuchte ich eines der Gefäße zu öffnen, stockte aber nachdem ich etwas Erschreckendes bemerkte. Ich spürte die dumpfen Vibrationen von Bewegungen im Inneren. Als ob etwas Lebendiges sich darin schlängelte oder über die Innenwand strich. Ein verschreckter Schritt zurück ließ mich beinahe über einen weiteren Behälter auf dem Boden stolpern. Doch dieser war offen. Stinkend und von widerwärtigem Schleim triefend lag er im Dreck. Ich unterließ weitere Versuche, die Gefäße zu öffnen und weigerte mich, sie ein weiteres Mal anzufassen.
Nun widmete ich mich wieder meinem ursprünglichen Vorhaben. Am anderen Ende der Kammer war eine weitere Metalltür, hinter der sich der Raum befand, in dem die verdorbenen Früchte der Gesellschaft ihre okkulten Rituale vollzogen. Zuerst spähte ich durch das Schlüsselloch und sah, dass alle Anwesenden sich zu meinem Vorteil um etwas versammelten, das ich nicht erkennen konnte. Somit war es mir möglich, die Tür einen Spalt breit zu öffnen, ohne dass jemand in meine Richtung sah. Behutsam drückte ich die Klinke nach unten und war erleichtert, dass sie weder versperrt war, noch schrecklich quietschte. So spähte ich durch den Spalt und was ich sah, veränderte mich für immer.

Schaurig maskierte Kultisten scharten sich um zwei Personen auf einer Bühne. Eine, in schimmernder Bronze-Maske, golden verzierter Kutte und einem sakralen Buch in der Hand. Die andere, mit fettigem Haar, nacktem blutbeschmiertem Körper und einem gepeinigten Ausdruck an die Wand gefesselt. Ein entsetzlicher Kontrast, untermalt durch die akustische Atmosphäre der kakophonischen Anrufungen, die die Gestalten ringsum willfährig rezitierten. Die Menge verstummte als der Ritualführer mit der bronzenen Maske das Buch zur Seite legte und sich ihnen zuwandte. Er breitete die Arme aus und brüllte: „ Ta’an-Thrax qih otrruk!“ Die Menge antwortete im Chor: „Ta’an-Thrax gzoi rah!“
Dann drehte er sich wieder um und betrachtete den Gefesselten. Er legte den Kopf schief und schritt näher an ihn heran. Er warf sein Haupt von einer Seite zur anderen, ganz als ob er eine Schlange imitieren wollte und hob seine Hände. Am Gefangenen angekommen, legte er sie ihm an die Schläfen, murrte eine Reihe unverständlicher Worte und wartete. Dieser hing bloß regungslos an seinen Ketten. Der Ritualführer geiferte die anderen Kultisten an: „Brüder und Schwestern! Sagt, was tun wir mit Ketzern, die sich dem einzig wahren Willen nicht beugen wollen?“ – „Wir richten sie im Angesicht unseres Herrn, auf dass sie seine Macht erfahren und sein Zorn gezügelt wird. Mit seinen Gaben reinigen wir die kümmerlichen Körper der Ungläubigen und bestärken unsere eigenen untergebenen Kräfte. Nun soll er sich an seinem Opfer laben und einen weiteren Fehlgeleiteten von seiner Welt tilgen. „Ta’an-Thrax gzoi rah!“
Der Kultist mit der Bronze-Maske brach in manisches Lachen aus, eine blasphemische Parodie auf jegliche Menschlichkeit, und kehrte der Menge wieder den Rücken zu. Er legte dem Opfer abermals die Hände auf, während die Schar hinter ihm eine Beschwörung formulierte. Immer heftiger und schneller spuckten sie seltsame Silben den Beiden auf der Bühne entgegen. Dann am Höhepunkt rührte sich etwas. Durch die weiten Ärmel seiner Gewandung wühlte sich plötzlich eine undefinierbare Masse und schoss dem Opfer blitzschnell ins Gesicht. Der Maskierte schritt zur Seite und schrie: „Seht sein Werk!“
Hunderte exotische Würmer mit spiralförmigem Körperbau krochen sein Gesicht entlang. Das Gewürm stürzte sich seinen Rachen hinab während der Körper in spastische Zuckungen ausbrach. Er erstickte fast an den kleinen Kreaturen und nachdem sie alle in ihm waren, schrie er sich die Seele aus dem Leib. Die widerwärtigen Würmer malträtierten ihn von innen und bohrten sich durchs Gedärm. Die entsetzlichen Schmerzensschreie waren unerträglich. Sein von Todesqualen verzerrtes Gesicht erinnerte an die Abbildungen auf den Tongefäßen. Nun wusste ich, was sich darin befand. Und woher die Motive für die Masken kamen, die, neben der grausigen Ästhetik, auch zum Schutz vor Krankheiten und parasitärem Befall dienen mussten. Die Menge gab fanatische Jubelschreie von sich als dem Opfer ein letztes gequältes Stöhnen entfloh und es schließlich verstarb. Dann war ein schreckliches Knacken zu hören als sich die Würmer wieder ins Freie fraßen und an allen möglichen Körperstellen ihre blutüberströmten Köpfe durch die Löcher im Fleisch reckten. Ich musste mich übergeben.

Ein fataler Fehler, denn das blieb nicht unbemerkt. Unzählige furchtbare Masken drehten sich in meine Richtung und starrten mich an. Schnell schloss ich die Tür und rannte zu dem Erdloch, durch das ich gekommen war. Ich krabbelte so schnell ich konnte und war schon fast auf der anderen Seite, doch mehrere Hände packten mich an den Beinen und zerrten mich gewaltsam zurück. Ich strampelte und schlug um mich, wand mich wie ein Wurm im Tageslicht. Doch vergebens. Vier Kultisten fixierten mich, der Rest umringte mich, stumm starrend. Dann drängte sich der Ritualführer durch die Reihen und kam langsam auf mich zu, den Kopf schief gelegt. Er hockte sich zu mir nieder, legte mir die Hände auf und musterte mich genau. Danach murrte er ein paar unverständliche Worte. Meine letzte Erinnerung war eine maskierte Person, die mir mit einer Spritze etwas injizierte.


Und so geschah es, dass ich mich dem Kult des Ta’an-Thrax hingab und mein Geist verklärt wurde. Ich durchlief die harten Etappen des Aufnahmeritus und bestärkte meinen Glauben und meine Verehrung an die einzig wahre Macht auf Erden. Heute beherrsche ich die dunklen Künste und bin ein untergebener Diener meines Herrn. Alljährlich treffe ich mich mit meinen Brüdern und Schwestern in der Ruine am Dunkelfels um seine unterirdischen Geschenke zu empfangen. Mit seinen berauschenden Gaben und der unbeugsamen Stärke unserer Gemeinschaft werden wir Großes erreichen. Wir lauschen seinen Plänen, gehorchen seinen Befehlen, nähren uns am Saft der Ungläubigen. Bis wir so weit sind. Ta’an-Thrax gzoi rah!

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